P. Mariaux u.a. (Hrsg.): L’Abbaye de Saint-Maurice d’Agaun

Cover
Titel
L’Abbaye de Saint-Maurice d’Agaune, 515–2015.


Herausgeber
Mariaux, Pierre-Alain; Bernard, Andenmatten; Thalia, Brero
Erschienen
Gollion 2015: Infolio
Anzahl Seiten
503 S. / 440 S.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Lotti Frascoli

Sie bewegen sich noch immer in der Abtei St-Maurice d’Agaune: die Stimmbänder der Choristen, wird doch seit 515 am Fusse des Grossen Sankt Bernhard gesungen. Zum 1500-Jahr-Jubiläum und als Grundlage zukünftiger Forschungen über die Abtei liegen zwei – im wahrsten Sinne des Wortes – gewichtige Bände zur wechselvollen Geschichte und den wertvollen Objekten der Institution vor. Das 2015 von Bernard Andenmatten, Laurent Ripart und Pierre-Alain Mariaux in Zusammenarbeit mit Thalia Brero herausgegebene Werk legt eine im Stil neuerer Kantonsgeschichten nicht streng chronologisch aufgebaute Abhandlung vor. Die von Spezialisten erarbeiteten Kapitel beschränken sich nicht auf die blosse Nacherzählung von zentralen historischen Abläufen, sondern berücksichtigen auch gekonnt aktuelle Debatten und Forschungsperspektiven.

Um es gleich vorwegzunehmen: Eine Stärke des Werks liegt in seiner Interdisziplinarität. Zentrale Aspekte werden aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet, indem archäologische Befunde und narrative Quellen aufeinander bezogen werden. Dies führt zu neuen Resultaten und Interpretationen, wie die folgenden Beispiele zeigen. So konnte für die in den Dokumenten erwähnten «ewigen Sänger» aufgrund der archäologischen Resultate ein möglicher Aufenthaltsort in der Vorgängerkirche der Martoletkirche, genannt Parvis, ausfindig gemacht werden. Dann wertet Laurent Ripart den Übergang zum regulierten Kanonikertum nicht als Bruch, sondern als langsamen Wandel, der nicht auf ein vermindertes Religiosentum hindeutet. Die These wird untermauert durch Befunde der Archäologin Alessandra Antonini, die Neu- und Umbauten in der Zeit verortet.1

Eröffnet wird der erste Band mit Einblicken in archivalische Zeitschnitte. Gilbert Coutaz faltet darin die Entwicklung des Archivbestandes auf und zeigt die anfänglichen Aufbewahrungsbemühungen der Mönche (und Archivare) anhand der Analyse von Dorsualnotizen. Wie Coutaz feststellt, ist erst ab dem späten 17. Jahrhundert eine genaue Lokalisierung des Archivs und der Aufbewahrung der Dokumente möglich. Zeitlich viel früher setzen die Kapitel von Eric Chevalley und Cédric Roduit zu den Heiligen Agaunums sowie Anne-Marie Helvétius’ Beschreibung der Zeit vor der Gründung durch König Sigismund bis zu den Karolingern ein. Letztere verortet die spätere Abtei vor dem Hintergrund keltischer und römischer Heiligtümer, die machtpolitisch gezielt umgeformt wurden, um sich den verändernden Gegebenheiten anzupassen. Offensichtlich wird in diesen Kapiteln die schwierige Quellenlage, die nur vorsichtige Schlussfolgerungen zulässt.

Die Fokussierung auf die Zeit des Spätmittelalters und die darauffolgenden Epochen ist eine weitere Stärke des Werks. Für die in Saint-Maurice gut belegte Zeit ab Mitte des 13. Jahrhunderts fehlte bislang eine gut zugängliche Umschau. Dieses Manko wird mit der Publikation behoben. Die Kapitel zu diesem Zeitraum wurden verfasst von Bernard Andenmatten, Alain Dubois sowie Lionel Dorthe und sind den Kanonikern, finanziellen Aspekten, der Bibliothek, Machtfragen und der überregionalen Vernetzung gewidmet. Alle Beiträge verorten die Ereignisse in und die Strukturen der Abtei in aktuellen Forschungsdebatten und bieten so gleichzeitig Einblicke in die spätmittelalterliche Alltagswelt, die aufgrund der Ausstrahlung der Märtyrer weit über die heutigen Landesgrenzen hinausragte. Saint-Maurice agierte lokal, was sich durch die Aushandlungsprozesse mit den Abgabepflichtigen zeigen lässt, gleichzeitig waren die Äbte aber auch über die Bistumsgrenzen hinaus einflussreiche Persönlichkeiten, etwa während des Schismas (1378–1417).

Die erste Bibliotheksumschau von Dubois über das Mittelalter wird von einem weiteren Kapitel zu den frühneuzeitlichen Bibliotheksbeständen ergänzt. In der Frühen Neuzeit kam es schliesslich zu einer Arrondierung der Besitzungen von Saint-Maurice und zu einem Ausbau der Machtbasis, die an bischöfliche Würden erinnert. Die daraus resultierenden Auseinandersetzungen, nicht zuletzt mit Sion, ziehen sich wie ein roter Faden durch die Artikel (vgl. z. B. die Beiträge von Philipp Kalbermatter, Gregor Zenhäusern und Marie-Claude Schöpfer). Passend zu den kommenden Reformationsjubiläen findet sich zur Frühen Neuzeit eine Auseinandersetzung mit der Gegenreformation (Andreas Nijenhuis), die die Bruchlinie zwischen der protestantischen Herrschaft Berns und der katholischen Abtei verdeutlicht. Während religiöse Aspekte unangetastet blieben, erfuhr die Gerichtsbarkeit Prägung durch die neuen Herren. Auch für die Zeit nach dem Mittelalter, die nicht mehr im Fokus der grossen Forschungsunternehmen zur monastischen Kultur steht, wird mit dem Werk ein solides Fundament gelegt, indem bis zum Zweiten Vatikanischen Konzil (1962–1965) die chronologische Struktur beibehalten wird. Vielleicht entsteht dadurch etwas zu sehr der Eindruck einer Kontinuität, wenn auch in Details Neuerungen und Anpassungen schön herausgearbeitet und kontextualisiert werden.

Neben der Vielzahl an qualitativ hochwertigen Darstellungen und Grafiken sind die regelmässig eingesetzten, grafisch besonders gekennzeichneten Exkurse hervorzuheben, die längere Quellenstücke wiedergeben oder beispielsweise Lebensläufe von Äbten nachzeichnen. Insgesamt wurde somit eine Publikation geschaffen, in der sich auch das Blättern und Entdecken lohnt. Die jeweils am Ende jedes Kapitels eingesetzten Literaturnachweise und das Orts-, Personenund Sachregister am Ende des Bandes erlauben gleichzeitig der Forschung wichtige Zugänge. Saint-Maurice muss zukünftig auch als spannender Fall für die vergleichende Arbeit in den Epochen des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit stärker herangezogen werden. Gekonnt bedient die Publikation somit wissenschaftliche Ansprüche und bietet eine gefällige Darstellungsweise für ein interessiertes Laienpublikum.

Die archäologischen Kapitel des ersten Bandes versuchen der wenig mit Schriftquellen belegten frühen Entwicklung des Ortes Agaunum (später Saint- Maurice) Rechnung zu tragen. Eine rasche räumliche Orientierung erlauben die Rekonstruktionszeichnungen, basierend auf Grundplänen, die leider etwas zu klein abgedruckt wurden (S. 92f., ebenso die farbkodierten Pläne der Umgebung S. 106, sowie S. 344f.). Die Hanglage und die grossen Geländeunterschiede haben nicht wenig zur komplexen Baugeschichte von Saint-Maurice beigetragen; ein weiterer Faktor sind die seit dem 19. Jahrhundert erfolgten Altgrabungen, deren Erkenntnisse aufgrund von Neugrabungen des 20. und 21. Jahrhunderts teilweise revidiert und ergänzt werden konnten. Die zeitliche Einordnung der einzelnen Bauphasen erfolgte selten über Funde, meist durch die C14-Datierung der Skelette aus den verschiedenen Grabbauten sowie für das 7. und 8. Jahrhundert durch Knochen- und Holzdatierungen. Die Datierungen der verschiedenen Bauphasen werden dabei jeweils am Kapitelende nochmals aufgelistet.

Die Bauten an Ort haben sich im Laufe der Zeit umfassend verändert. Die römischen Körpergräber des 2. und 3. Jahrhunderts wurden erst mit einem Mausoleum und später einem Oratorium überbaut, und es müssen wohl daneben etliche, wenig fassbare Nebengebäude existiert haben. Der erste über dem Oratorium liegende Bau enthält mit einer südlichen Portikusanlage als Zugangskorridor eine Form, die in insgesamt sechs Kirchenphasen bis ins 9. Jahrhundert beibehalten wird. Noch in der romanischen und gotischen Transformation wuchs und veränderte sich die Kirche kontinuierlich und ermöglichte es damit, einer immer grösseren Gemeinschaft von Lebenden und Toten Platz zu bieten. Die heutige Kirche geht auf einen Nord-Süd angelegten Neubau der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts zurück. Diese baulichen Hüllen sind nicht nur ein Ort der Totenlege, sie dienen auch der Verehrung wichtiger Heiliger wie des namengebenden Mauritius, der Legende nach ein Ritterheiliger der thebanischen Legion.

Die Umgebung der Martoletkirche ist ein komplexes Nebeneinander von einer weiteren, in den frühesten Phasen noch undatierten Kirche («église du Parvis »), dem grössten bis jetzt im Wallis gefundenen Baptisterium, einer mehrphasigen, bis ins 7. und 8. Jahrhundert benutzten Palastanlage mit einem viereckigen Podest, einer Bodenheizung und einer später eingebauten Apsis und mehreren Gebäuden, die alle zur Abtei gezählt werden. Diese spannenden Einblicke in die detaillierten Grabungsbefunde lassen den Leser förmlich schwelgen, gerne würde man auch noch mehr über die jeweiligen Phasen der die Martoletkirche umgebenden Strukturen der Abtei und der Pilgerherberge erfahren, die insgesamt eher wenig erläutert werden. Diese Verkürzung ist wohl dem Anliegen der Herausgeber geschuldet, den Fokus auf die gesamten 1500 Jahre zu legen. Das Einbinden der archäologischen Auswertung in einen möglichst gut lesbaren Text ist sicher auch diesem Umstand zu verdanken. Allerdings fehlt der sonst übliche «Apparat» an archäologisch relevanten Tabellen (z. B. ein Verzeichnis aller Gräber mit den verschiedensten Grabeinbauten oder eine Tabelle mit allen C14-Daten, die hier einzeln aus den Fussnoten zusammengeklaubt werden müssen) und einzelnen Funden, die gerade in der im Wallis im Verhältnis zur Restschweiz relativ gut sichtbaren Spätantike wichtig wären.

Im ebenso ausführlichen zweiten Band, der eine eigene Einheit bildet und in dieser Besprechung nur ganz am Rande angesprochen werden kann, werden die materiellen Schätze des Klosters, der trésor, fachmännisch beschrieben. Besondere Aufmerksamkeit gilt dem wichtigsten Bestand des Tresors: den für Heiligenverehrung und Kirchenrituale im Laufe der letzten eineinhalb Jahrtausende wichtigen Objekten. Das Resultat der Spenden und Gaben der unzähligen Pilger und Patrone zeigt eine Fülle an feingearbeiteten, einzigartigen Stücken, die längst vergangene
Welten materiell fassbar und bis zu einem gewissen Grad erfahrbar machen.

Mit dieser Publikation wurde das neue, massgebende Werk zu Saint-Maurice geschaffen, das zeigt, dass nicht nur die Stimmbänder seiner Choristen in andauernder Bewegung sind. Saint-Maurice ist ein ungemein spannender Ort, der durch die Verehrung des heiligen Mauritius eine nordeuropaweite Resonanz gefunden hat und der unbedingt einlädt, die didaktisch aufbereitete Ausgrabungsstätte mit den verschiedenen Martoletkirchen und das schöne neue Museum mit Kirchenschätzen seit der Zeit Karls des Grossen zu besuchen. Eine Ergänzung findet ein allfälliger Besuch vor Ort durch eine Vielzahl digital zugänglicher Schriftquellen, die auf digi-archives.org verfügbar sind.

1 Alessandra Antonini verstarb 2016, ein Jahr nach Erscheinen des Werks.

Zitierweise:
Lotti Frascoli, Tobias Hodel: Rezension zu: Pierre-Alain Mariaux, Bernard Andenmatten, Thalia Brero (Hg.), L’Abbaye de Saint-Maurice d’Agaune, 515–2015, Gollion: Infolio, 2015. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 467-470.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte Vol. 67 Nr. 3, 2017, S. 467-470.

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